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Freiheit ohne Solidarität ist nichts als Egoismus.

An den vergangenen Wochenenden wurden in Greiz als „Spaziergänge“ beworbene Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie durchgeführt. Dabei versammelten sich bis zu 1500 Menschen zu unangemeldeten Aufmärschen. Extrem rechte Gruppen und Parteien wie die „Freie Sachsen“, der „III. Weg“, die „Neue Stärke“, diverse lokale Neonazis, Antisemit:innen, Reichsbürger:innen und Verschwörungsanhänger:innen tragen und organisieren die Versammlungen maßgeblich mit. Offensiv werden gefährliche Ideologien verbreitet – sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum – und bleiben dabei unwidersprochen. Ein Großteil der „Spazierenden“ skandiert Parolen, die suggerieren, dass in Deutschland eine Diktatur herrschen würde. Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen werden unhinterfragt als faktenbasierte Wahrheit aufgenommen und weiterverbreitet.

Mit wachsender Sorge und uneingeschränktem Unverständnis beobachten wir die zunehmende Radikalisierung der heterogenen Gruppe, sowohl auf der Straße, als auch in den sozialen Netzwerken. Unabhängig davon, wie sich die Teilnehmenden politisch selbst verorten, ist eindeutig festzustellen, dass sie den Boden der demokratischen Gesellschaft verlassen.

Die pandemische Lage ist ernst – insbesondere im Landkreis Greiz. Den Teilnehmenden scheint die Ernsthaftigkeit der derzeitigen Situation nicht bewusst zu sein. Oder schlimmer: Sie ignorieren sie absichtlich. Bei anhaltend hohen Inzidenzwerten und einem über dem Limit arbeitenden Gesundheitssystem zeugt dieses Verhalten von Realitätsverweigerung und einer zutiefst unsolidarischen Haltung der Teilnehmenden gegenüber ihren Mitmenschen. Uns ist bewusst, dass wir mit diesem Brief die „Spaziergänger:innen“ vermutlich nicht erreichen werden. Das ist auch nicht unser Anliegen. 

Wir richten uns an die überwältigende Mehrheit. An die Menschen, die sich, wenn auch oft zähneknirschend, solidarisch zeigen und ihren Teil dazu beitragen, das Pandemiegeschehen einzudämmen. Niemandem bereiten die Einschränkungen Freude. Wir alle haben Einschnitte im beruflichen und privaten Bereich dulden müssen. Wir alle halten einzelne Maßnahmen und politische Entscheidungen für streitbar und kritikwürdig und bringen das auch im öffentlichen und privaten Raum zum Ausdruck. Dennoch sind wir sicher, dass Maßnahmen nötig sind, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Wir leisten unseren Beitrag, um weitere Todesopfer, Triage und Long-Covid zu verhindern und eine Überlastung des Pflegepersonals abzumindern.

Wir begrüßen die Positionierung der Stadt gegen die sogenannten „Spaziergänge“ und erwarten, dass den Worten künftig auch Taten folgen – nicht nur in Greiz.

Die große Mehrheit an Menschen verhält sich solidarisch und folgt den fundierten Einschätzungen anerkannter Wissenschaftler:innen. Diese gilt es zu stärken. Die Zeit, für Menschen Verständnis zu zeigen und Brücken zu bauen, die den Boden der Verfassung längst verlassen haben, muss enden. Eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft benötigt gerade in Krisenzeiten den Diskurs über Entscheidungen. Jeder und jede kann seine oder ihre Meinung frei äußern. Politische Maßnahmen können, sollen und müssen jederzeit öffentlich kritisierbar sein und einer juristischen und wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Das kennzeichnet eine Demokratie und macht sie stärker.

Kritik und Diskurs kommt an Grenzen, wenn mit Menschen verhandelt wird, die Wissenschaft, Medien und Politik von vornherein delegitimieren und sogar die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens infrage stellen. Nicht wenige Verschwörungsgläubige tun genau das – mit realen fatalen Folgen.

Im Dauerfeuer aus Telegram-Kanälen und Youtube-Expert:innen, auch im Zusammenspiel mit den Algorithmen der sozialen Netzwerke, radikalisiert sich ein nicht geringer Teil der Verschwörungsgläubigen, wird zunehmend unerreichbar für Fakten und Realität und wähnt sich in einem finalen Endkampf. Gewaltbereitschaft gegen Polizei und politische Gegner:innen, Mordaufrufe, Fackelmärsche vor den Wohnhäusern von Politiker:innen, der versuchte Sturm auf den Reichstag oder der Mord an einem jungen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein belegen, dass die Bedrohungen real sind.

Aus unserer Sicht ist eine deutliche Distanzierung von Feinden der Demokratie und überzeugten Verschwörungsgläubigen im öffentlichen Raum notwendig. Wer wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert, wer offensichtliche Falschaussagen verbreitet, wer zu Hass und Gewalt führende Mythen vertritt, der hat zum öffentlichen Diskurs nichts Konstruktives beizutragen. Das Zerrbild und das Gerede von einer gespaltenen Gesellschaft, befeuert von einer marginalen Minderheit von Rechten, Verschwörungsgläubigen und „Spaziergänger:innen“, wollen wir nicht weiter ertragen.

Die Menschen, die den „Spaziergängen“ ablehnend gegenüberstehen, möchten wir hiermit ermutigen, öffentlich Stellung zu beziehen. Ein wahrnehmbarer Widerspruch kann dabei helfen, die Dynamik zu durchbrechen und beraubt die wenigen „Spaziergänger:innen“ zugleich der Möglichkeit, sich als Ausdruck einer schweigenden Mehrheit zu stilisieren. Hinterfragen Sie im privaten Bereich, im Alltag, im Familien- und Arbeitskontext die Erzählungen und Pandemieverharmlosungen und bleiben Sie im Gespräch. Das kostet Kraft und Zeit, führt vielleicht zu Streit und unangenehmen Situationen. Es scheint aber die einzige Möglichkeit zu sein, noch nicht vollständig radikalisierte Menschen für den demokratischen Diskurs zurückzugewinnen.

Zeigen wir uns solidarisch und gehen wir gestärkt durch diese Krise. Die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und künftig zu erwartenden Umwälzungen erfordern von uns allen Anstrengungen, die wir nur gemeinsam bewältigen. Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit sind dabei unverzichtbare und gleichrangige Werte. Freiheit ohne Solidarität ist nichts als Egoismus.

>>> Unterzeichnen Sie diesen offenen Brief auf change.org unter https://chng.it/6ypCjXFdNp <<<

Antifaschistisches Bündnis für ein weltoffenes Vogtland

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